Professur für Mittelalterliche Geschichte (Späteres Mittelalter) Dissertation Alicia Wolff
Mehr als nur Item. Listen in Pilgertexten des Spätmittelalters
Wer sich auf die ältere Forschung zu Pilgertexten des Mittelalters stützt, gewinnt leicht den Eindruck, es handle sich um vielfältige und abwechslungsreiche Berichte voller Abenteuer, Exotik und Ungewöhnlichem. Die Forschung widmete sich nämlich fast ausschließlich ausgewählten erzählenden Passagen, die ein solches Bild vermitteln konnten. Übergangen wurden hingegen die gattungsspezifischen, wiederkehrenden enumerativen Passagen und Auflistungen. Sie wirken auf den ersten Blick gleichförmig, wenig aussagekräftig und scheinen keine persönliche Note zu tragen. Doch genau hier setzt meine Dissertation an: Sie konzentriert sich auf die Pilgertexte des 15. Jahrhunderts aus dem deutschen Sprachraum, die Reisen nach Jerusalem, Santiago de Compostela und Rom beschreiben.
Im Zentrum der Arbeit stehen zum einen die wiederkehrenden enumerativen Strukturen, das heißt die Auflistungen von Kirchen, Stätten und Ablässen, die – wie gezeigt werden konnte – häufig auf die Verwendung verbreiteter Vorlagen wie den Indulgenziari der Franziskaner vom Berg Sion oder der Textkompilation Historia et descriptio aus Rom zurückgehen. Zum anderen untersuche ich sowohl die in die Erzählung eingebetteten Listen als auch jene, die in den Handschriften als Beilagen vor oder nach dem Haupttext platziert wurden.
Die Arbeit fragt nach den häufigsten Verwendungsarten der Listen und danach, wie Pilger die Listenform für ihre Zwecke nutzten, bestehende Listen adaptierten und in ihre Texte integrierten. Ziel der Arbeit ist es zu zeigen, dass Listen „mehr als nur Item“ sind: Sie bilden einen Schlüssel zum Verständnis mittelalterlicher Pilgervorhaben. Die Liste fungierte als Instrument zur Ordnung, Speicherung und Verbreitung von Wissen innerhalb der Pilgerberichte.
In den letzten Jahren ist eine Vielzahl an Monographien und Sammelbänden erschienen, die sich der Gattung Liste in unterschiedlichen Epochen und Disziplinen widmen. Diese Arbeiten bestehen jedoch überwiegend aus Fallstudien, deren Methodik und Ergebnisse sich nur selten auf weitere Beispiele übertragen lassen. Für die Geschichtswissenschaft erweisen sich die Ansätze der Literaturwissenschaftlerin Eva von Contzen als besonders überzeugend. Die Liste hat sich als Sammelbegriff für eine Vielzahl verwandter Aufzählungspraktiken etabliert; von Contzen formulierte als Minimaldefinition, dass eine Liste aus einer Reihe von Elementen besteht, die nach einem bestimmten Prinzip in einer klar erkennbaren Einheit zusammengestellt sind. Von Bedeutung sind dabei auch die visuellen Kennzeichen, etwa Aufzählungszeichen wie Kommata oder Paragraphenzeichen sowie Floskeln wie Erstens, Zweitens, Drittens oder das häufige Wort Item. Ertragreich ist zudem die Untersuchung der Affordanzen der Liste, also der unterschiedlichen Möglichkeiten, wie sie je nach Kontext und Intention interpretiert werden kann. Eine Erweiterung oder Verschiebung ihrer Affordanzen ergibt sich insbesondere dann, wenn bestehende Listen in neue Zusammenhänge eingebettet werden. Methodisch basiert meine Arbeit auf der historisch-kritischen Analyse, wobei sich ergänzende Analysekriterien als besonders hilfreich erwiesen: die Verortung der Liste im Werk, die Untersuchung ihrer Form und Struktur sowie ihrer Inhalte und Funktionen. Ebenso berücksichtigt wird die Frage nach der Erstellung, Verwaltung und dem Gebrauch der Listen.
Bei der historischen Arbeit mit Listen geht es darum, ihre Leerstellen zu füllen. Ihr Sinn erschließt sich erst im Zusammenspiel mit dem narrativen Umfeld, mit dem sie eng verzahnt sind. Für die Zeitgenossen muss dies deutlich leichter gewesen sein, da die Listen in ihrer Lebenswelt verankert waren und sie über das nötige Kontextwissen verfügten. Der Blick über den Listenrand hinaus erweist sich als besonders bereichernd, da er in bislang wenig beachtete Bereiche der Reisepraxis führt. Andere Quellen machen zudem sichtbar, was Listen nicht erwähnen – sei es bewusst ausgelassen oder unbeabsichtigt nicht erfasst. So ermöglichen Listen zugleich konkrete Einblicke in die praktische Organisation von Pilgerreisen wie auch in die Vorstellungswelt der Pilger.
Bei der Durchsicht der Quellen zeigte sich rasch, dass die seit den 1480er Jahren entstandenen Pilgertexte für mein Vorgehen am ergiebigsten waren. Diese umfangreichen Pilgerkompendien enthalten eine Vielzahl an Listen, stehen in der Tradition ihrer Gattung und setzen zugleich eigene Schwerpunkte. Während sie die üblichen Beschreibungen von Kirchen, heiligen Stätten und Ablässen integrieren, erstellten ihre Autoren zahlreiche weitere Listen, die sehr unterschiedlichen Zielsetzungen dienten. Das historische Quellenmaterial wurde systematisch ausgewertet, und die am häufigsten vorkommenden Verwendungsformen erfasst. Beim erneuten Lesen wurde mir noch einmal bewusst, wie bereichernd das breite Spektrum dieser Listen war, das mich während der Arbeit in ganz unterschiedliche Bereiche der mittelalterlichen Geschichte führte. Hierzu gehören etwa Verzeichnisse von Stätten, Heiltümern und Ablässen, Namenslisten, Schiffs- und Geleitverträge, Regimina sanitatis, Sprachführer sowie Rechnungen. Im Mittelpunkt jedes Kapitels steht eine besonders aussagekräftige Liste, die exemplarisch analysiert und anschließend im Vergleich mit weiteren Beispielen kontextualisiert wird. Die Listen erfüllten sowohl instruktive als auch repräsentative Funktionen und machen sichtbar, welche Aspekte die Pilger um 1500 beschäftigten und welche Zielsetzungen, Erwartungen und Unsicherheiten ihre Vorhaben begleiteten.
Listen dienten den Pilgern als praktische Instrumente zur Vorbereitung und Durchführung ihrer Reisen. In einem zunehmend komplexen Gefüge religiös motivierter Mobilität wurden sie zu zentralen Mitteln der Kontingenzbewältigung. Sie bestimmten etwa, welche Stätten und Heiltümer besucht werden sollten, brachten das Pilgererlebnis in geordnete Bahnen, gaben Hinweise zur Ausrüstung für die Reise ins Heilige Land oder in den Sinai, halfen beim Abschluss von Schiffsverträgen mit venezianischen Patronen und boten Anleitungen zur Vorbeugung und Behandlung von Krankheiten während der Seereise. Die Listen vermittelten ein Gefühl von Sorgfalt, Planung und Kontrolle, reduzierten Komplexität und nahmen Entscheidungen vorweg. Zugleich spiegeln sie die hohe Sensibilität der Zeitgenossen für Fragen von Zugehörigkeit und Ausschluss: Der Eintrag auf der „richtigen“ Liste verlieh soziale Anerkennung, markierte den eigenen Platz in der Welt und hielt das Vorhaben dauerhaft fest. Darüber hinaus ermöglichten Listen eine Art Buchführung des Heils, auch wenn Ablasszahlen in den Pilgerberichten in der vorreformatorischen Frömmigkeit meist nur noch symbolischen Charakter besaßen. Rechnungen dienten zudem als Rechenschaftslegung über den angemessenen Aufwand. Sprachführer wie die lateinisch-arabischen Glossare formten Erwartungen an das Fremde, lange bevor überhaupt ein tatsächlicher Kontakt hergestellt wurde. Die offene und zugleich klar strukturierte Form der Listen begünstigte Übernahmen und Anpassungen; Pilger integrierten die Listen ihrer Vorgänger und machten dadurch die enge Verflechtung der Texte sichtbar. Auch die Rezeption zeigt, dass Listen weit über ihren ursprünglichen Kontext hinauswirkten und etwa für geistige Pilgerfahrten genutzt wurden. Zudem eröffnen sie neue Einsichten in die Entstehungsbedingungen der Berichte, da viele Materialien – etwa Pilgerführer, Regimina, Namenslisten oder Heiltumsblätter – bereits unterwegs gesammelt oder verfasst wurden. Manche Themen, etwa der Umgang mit Krankheit und Tod auf den Galeeren oder die Gestaltung der Schiffsverträge, traten durch die listenförmige Perspektive überhaupt erst als eigenständige Forschungsfelder hervor; andere, lange als bloße Beilagen behandelte Listen erhielten durch die Analyse die ihnen gebührende Aufmerksamkeit.



